Cover
Titel
Das Zeitalter der Ambiguität. Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Thiessen, Hillard von
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
447 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Brunner, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz

Spätestens seit in Münster der Aspekt der „Symbolischen Kommunikation“ bearbeitet wurde und damit gewissermaßen ein neues Forschungsfeld für die Frühe Neuzeit etabliert worden ist, weiß man, dass Werte und Normen ein Schlüssel zur Erforschung der besonderen Eigenarten der Epoche sein können. Der Rostocker Frühneuzeithistoriker Hillard von Thiessen legt mit diesem Buch, das programmatisch von der Frühen Neuzeit als dem Zeitalter der Ambiguität spricht, eine Monografie vor, die sich den unterschiedlichen Formen des Umgangs mit Werten und Normen widmet. Seine Ausgangsthese ist, dass es bis 1800 eine zu beobachtende „signifikante Reduktion von Ambiguitätstoleranz“ gegeben habe (S. 13). Das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit seien von Bemühungen geprägt gewesen, Normen zu konkretisieren und sie mit einer bestimmten Autorität zu versehen. Vor allem im 18. Jahrhundert habe „die Akzeptanz von normativen Widersprüchen und Mehrdeutigkeit“ (S. 14) abgenommen. Er verfolgt dabei einen praxeologischen Ansatz, ihn interessieren also sowohl die Wechselwirkungen zwischen Ideen und Handlungsweisen als auch die konkreten Aushandlungsprozesse in Bezug auf Normenkonkurrenz. Seine begrifflichen Bestimmungen sind weiterführend und sinnvoll. Werte seien weiter und offener gefasst und böten eine größere Integrationsfläche als Normen. „Vormoderne Akteure reflektieren kaum über Konflikte zwischen Werten, weil sie im Prinzip davon ausgingen, dass die Welt als vom allmächtigen Gott geschaffene Ordnung grundsätzlich harmonisch gestaltet war.“ (S. 27) Es sei allerdings durchaus zu Deutungskonflikten um diese Werte gekommen, die sich untersuchen ließen. Durch Normen erfolgte eine Konkretion für das menschliche Handeln. Er unterscheidet dabei pragmatisch zwischen religiösen, gemeinwohlorientierten und sozialen Normen (S. 29).

Das Buch gliedert sich in insgesamt sieben Kapitel. Nach einer Einleitung, die die Begrifflichkeiten definiert, folgt ein ersteres, längeres Kapitel über das Phänomen der „Normativen Zentrierung“. Es folgen drei weitere Kapitel, die sich mit Normensystemen in Interaktion beschäftigen: „Glaube und Frömmigkeit im normativen Spannungsfeld der ‚Welt‘“, „Fürstengesellschaft und Staatenwelt“, „Dienst am Fürsten – Dienst für den Staat“. Das sechste Kapitel geht den Praktiken des Umgangs mit normativer Uneindeutigkeit nach. Den Abschluss bildet ein Abschnitt über die Moderne als eines vermeintlichen Zeitalters der Eindeutigkeit.

Das zweite Kapitel positioniert sich zu dem vor allem von dem Theologen Berndt Hamm entwickelten Konzept der ‚Normativen Zentrierung‘. Nach einem kurzen Forschungsüberblick lässt der Autor diesen Prozess anhand der drei Normenkategorien Revue passieren. Er zeigt dabei, wie sehr die Zentrierung immer wieder zu Konflikten geführt habe, wobei vor allem das Beispiel der Religion besonders eindrücklich ist. Aushandlungsprozesse stehen im Mittelpunkt der drei Unterkapitel über „Normensysteme in Interaktion“. Gott habe sich nämlich nicht ohne Weiteres instrumentalisieren lassen, sondern die mit einer bestimmten Theologie verbunden Normen hätten sich im sozialen Alltag erst durchsetzen müssen. Die Vielschichtigkeit solcher Prozesse verdeutlicht er etwa an der Nobilität: Adelige verstanden es, sich an die Spitze einer Reformbewegung zu setzen, oder aber verhalten distanziert auf solche kirchlichen Bemühungen zu reagieren. Zu Recht weist er in diesem Zusammenhang auch auf die große Bedeutung der Grabmalskultur und des Totenkultes für diese Aushandlungsprozesse hin. Sie können nämlich „als Paradebeispiele für Normenkonkurrenz angesehen werden: Religiöse, gemeinwohlorientierte und soziale Normen kreuzten sich in solchen Zusammenhängen und gaben nicht selten Anlass zu Normen- und Wertekonflikten, die einen tiefen Einblick in den Normenhorizont frühneuzeitlicher Eliten gewähren.“ (S. 129)

Im vierten Kapitel untersucht von Thiessen die mit der Fürstengesellschaft verbundenen interagierenden Normensysteme, indem er die prägenden und oftmals konkurrierenden „gedachten Ordnungen“ (M. Rainer Lepsius) dieser Zeit in den Blick nimmt. Politische Herrschaft, verstanden als Wille, bestimmte Normen handlungsleitend zu machen, konnte aber nur dann erfolgreich gestaltet werden, wenn sie ihrerseits an gemeinwohlorientierte und religiöse Normen rückgebunden war. All dies führte jedoch wiederum nicht zu Eindeutigkeit, sondern brachte wiederum Normenkonkurrenzen hervor (S. 167).

Das fünfte Kapitel legt den Fokus auf die politischen Akteure, die im Dienst von Staat und Fürst standen. Im Einzelnen blickt der Autor hier auf Beamte, Diplomaten und Favoriten. Diese nahmen eigenständig und flexibel auf unterschiedliche Normen Bezug. Ein Amt richtig auszuüben habe nicht bedeutet, sich ausschließlich am gemeinwohlorientierten System auszurichten, vielmehr sei die richtige Balance zwischen den einzelnen Normenhaushalten entscheidend gewesen (S. 259). Denn auch für den Amtsträger war sein sozialer Rang wichtig und wurde keineswegs von den administrativen Eigenlogiken außer Kraft gesetzt. Sie befanden sich vielmehr in einer komplexen Gemengelage von unterschiedlichen normativen Ansprüchen. Mit Verweis auf eine Studie von André Krischer zeigt von Thiessen dies am Beispiel von Samuel Peyps, der im Flottenamt in London tätig war. Diese Tätigkeit fand ausführlich Eingang in seine berühmten Tagebücher. Diese Behörde, die erst 1660 gegründet worden war, hatte ihre Arbeitsweisen erst zu entwickeln, bestanden dort doch noch keine eingespielten, klaren Hierarchien. Patronagebeziehungen standen dabei quer zu diesen, sie „führten dazu, dass einige Mitarbeiter bestimmter Kollegen bevorzugt Dienste leisteten und andere Kontakte auf ein dienstlich gefordertes Minimum beschränkten.“ (S. 223). In diesem „organisierten Sozialsystem“ (S. 224), wie A. Krischer es bezeichnet hat, ließe sich eine charakteristische „Überlagerung von formalen und informell-sozialen Verhaltenserwartungen an die Amtsträger“ (S. 224) beobachten, „die formalen Amtsobliegenheiten schufen also keine ‚totale Rolle‘, der sich Amtsträger vollumfänglich verpflichtet fühlten.“ (S. 224)

Im sechsten Kapitel fasst von Thissen systematisch die Formen des Umgangs mit normativer Uneindeutigkeit zusammen. Diese zeigen eine breite Palette von möglichen Reaktionen. Von situativen Vereindeutigungen über eine normative Übererfüllung bis hin zur Indifferenz und organisierter Heuchelei standen dem frühneuzeitlichen Zeitgenossen eine ganze Reihe von Optionen zur Verfügung, die allerdings auch ganz unterschiedliche Verbreitung und auch Konjunkturen besaßen. Eine Besonderheit, die von Thiessen zu Recht herausstellt, sind interkulturelle Praktiken. Insbesondere Diplomaten seien in der Lage gewesen, sich auf fremde Verhältnisse nicht nur einzustellen, sondern sich gegebenenfalls auch daran anzupassen. Dennoch habe es in Grenzen so etwas gegeben wie einen inklusiven Eurozentrismus. Das Konzept ist ausgehend von Fällen entwickelt worden, in denen zwar grundsätzlich von der eigenen, europäischen Überlegenheit ausgegangen worden ist, diese jedoch „im Einzelfall korrigierbar oder relativierbar war und nicht zu einem Überlegenheitsgestus und einem kulturellen Sendungsbewusstsein führte“ (S. 313). Eine solche Form des Pragmatismus war gleichwohl auf einen engen Personenkreis begrenzt und stellt sicherlich kein Massenphänomen dar. Ein „flächendeckendes Merkmal frühneuzeitlicher Gesellschaften“ (S. 319) war die Normenkonkurrenz allemal. Von Thiessens Ansicht nach handelt es sich hierbei um ein prägendes Merkmal, das zugleich auf das Ideal der Eindeutigkeit traf. Im Sinne eines solchen charakteristischen Spannungsverhältnisses könne man für die Frühe Neuzeit von einem Zeitalter der Ambiguität sprechen.

Im siebten Kapitel unternimmt er dann noch den Schritt in die sogenannte Moderne. Handelt es sich bei ihr um ein „Zeitalter der Eindeutigkeit?“ (S. 321). Der Rostocker Frühneuzeithistoriker ist sich sicher, dass es sich hierbei um eine „Lebenslüge“ (S. 359) dieser Epoche handelt. Moderne Gesellschaften tendierten dazu, kulturelle Ambiguität zu ignorieren oder zu verleugnen, mit allen problematischen Implikationen, die das mit sich bringe. Trotz einer Prävalenz der religiösen Normen sei es den Menschen in der Frühen Neuzeit, grosso modo, leichter gefallen, zwischen unterschiedlichen Normsystemen zu lavieren.

Gerade die Modernedeutung dieses Buches wird zu weiteren Debatten führen und wohl auch führen müssen. Hillard von Thiessen ist es aber mit diesem Buch gelungen, eine Gesamtdarstellung der Werteordnung der europäischen Frühen Neuzeit vorzulegen, die in überzeugender Weise gängige Epochengrenzen in neuer Weise bewertet und kontextualisiert. Vor allem ist sein praxeologischer Ansatz zur Beschäftigung mit der Wirkung von Normen und Werten im Alltag ungeheuer anregend und fordert zu einer weitergehenden Auseinandersetzung auf.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch